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Lohnen sich heute noch visuelle Beobachtungen?

Im letzten Rundbrief (BAV Rundbrief 1/2002, S.6) hat Anton Paschke über die heftige Diskussion in tschechischen Amateur- und Profikreisen über Wert und Unwert von visuellen Beobachtungen berichtet und auch die Umfrage erwähnt, die bei Veränderlichen-Organisationen weltweit zum Thema durchgeführt worden ist. Auch Werner Braune wurde letzten September recht kurzfristig um eine Stellungnahme gebeten, hat diese Aufgabe dann aber an mich delegiert. Meine Antwort entstand in kurzer Zeit - was man dem Text anmerkt - und soll auf Wunsch von Werner nun auch im Rundbrief erscheinen. Ich habe den Text im Wesentlichen unverändert gelassen, nur in Form von "Behauptung" und "Replik" die gegensätzlichen Positionen etwas akzentuiert und formal abgesetzt. Dies fand ich in der direkten Antwort letztes Jahr nicht nötig, erleichtert aber bei Unkenntis des sehr kritischen Thesenpapiers von Jiri Dusek das Verständnis meiner Antworten. Für Hartha habe ich einen Vortrag zum gleichen Thema in Arbeit, der hoffentlich etwas strukturierter meine Meinung zum Thema behandelt. Dass auch der vorliegende Text wegen der kurzfristigen Entstehung keine BAV-allgemeine Sicht sein kann, sondern nur meine Stimme im Chor darstellt - das sollte klar sein.

Behauptung: Ohne wissenschaftlichen Anspruch hat die Veränderlichenbeobachtung keinen Sinn. Visuelle Beobachtungen sind heute für die Wissenschaft wertlos, also ist die visuelle Veränderlichenbeobachtung sinnlos.

Replik: Die Beobachtung der Veränderlichen Sterne geschieht aus unterschiedlichen Motiven, von denen der Wunsch nach einer wissenschaftlichen Betätigung nur eines ist. Es muß nicht unbedingt eine wissenschaftliche Fragestellung sein, die einem zum Beobachten von Veränderlichen Sternen bringt: das persönliche Erleben eines Lichtwechsels, der unmittelbare Eindruck sind genauso gültige Anreize. Welcher Mondbeobachter, welcher Deep-Sky-Beobachter hat denn wissenschaftliche Ambitionen? Richtig ist aber, dass die Veränderlichenbeobachtung als der Bereich angesehen werden kann, in der zum persönlichen Erleben kosmischer Phänomene noch die Möglichkeit hinzutritt, wissenschaftlich verwertbare Ergebnisse zu erzielen. Allerdings braucht das einige Erfahrung, die nur in der praktischen Ausübung, also beim Beobachten selbst, erlangt werden kann. Empfindet ein Beobachter seine Veränderlichenschätzungen dann als überflüssig, wenn sie nicht (sofort) wissenschaftlich verwertbar sind, sollte er mit einem anderen Anspruch an das Hobby herangehen oder das Hobby wechseln.

Auch heute gilt, dass es mehr Veränderliche gibt, als die Berufsastronomen in der Lage sind zu verfolgen. Automatische Programme (s.u.) lösen dieses Problem nicht, da ihre Ergebnisse überprüft werden müssen, und da nur Menschen (gegenwärtig) in der Lage sind, Besonderheiten zu erkennen.

Behauptung: Automatische Teleskope, automatische Überwachungsprogramme sind im Kommen und machen die Veränderlichenbeobachter überflüssig.

Replik: Machen sie die Beobachter überflüssig? Nein, aus folgenden Gründen:

Behauptung: Besonders wertlos sind visuelle Beobachtungen an Halbregelmäßigen Sternen.

Replik: Gerade hier liefern die Amateurbeobachtungen das wichtigste Langzeitmaterial. Selbst Plattenarchive sind oft kein Ersatz, weil die saisonalen Lücken zu lang sind und pro Saison oft nicht mehr als 20 Aufnahmen verfügbar sind - für viele Sterne ist das zu wenig.

Behauptung: nur 140 professionelle Astronomen sind pro Jahr an Daten visueller Beobachter interessiert, und das sind gemessen am Aufwand der Amateure sehr wenige.

Replik: Wenn 140 professionelle Astronomen pro Jahr an Daten interessiert sind, ist das ein Beweis für die wissenschaftliche Produktivität der visuellen Beobachter: Vergleicht man die immensen Kosten von manchen Satellitenunternehmen (mit manchmal nur wenigen daraus generierten wissenschaftlichen "papers") mit den geringen Kosten der visuellen Veränderlichenbeobachtung, dann ist die visuelle Veränderlichenbeobachtung eine äußerst effektive Einrichtung zum Sammeln von wissenschaftlich verwertbaren Daten.

Behauptung: Die Lichtkurven der visuellen Beobachter unterscheiden sich bis zur Nichtvergleichbarkeit.

Replik: Es ist übertrieben, dass sich die Lichtkurven der Beobachter so stark unterscheiden: sie sind auf jeden Fall geeignet, Typen, Perioden und visuelle Amplituden zu bestimmen. Der visuelle BAV-Beobachter Eckhard Born konnte die Typen, die Periode und die Amplitude von zwei von Hipparcos entdeckten, aber nicht geklärten Veränderlichen Sternen bestimmen - und die Ergebnisse konnten in professionellen Zeitschriften veröffentlicht werden.

Behauptung: Viele Beobachter haben eine Erwartungshaltung, wie hell der Stern gerade zu sein hat, und schätzen entsprechend.

Replik: Das wird in Einzelfällen wohl so sein, aber Dank der Veränderlichenorganisationen mit Qualitätskontrolle (Beispiel: BAV) werden unklare oder verdächtige Ergebnisse nicht weitergeleitet.

Behauptung: Wissenschaftliche Magazine publizieren keine Aufsätze mehr, die auf visuellen Schätzungen beruhen.

Replik: Das stimmt so allgemein nicht. Beispiele sind Uli Bastians Untersuchungen zur Periode von Z And, die Untersuchungen von Lazslo Kiss zur Multiperiodizität von Halbregelmäßigen Sternen, und die Untersuchungen von Zsoldos zum Lichtwechsel und Periodenverhalten von RV-Tau-Sternen. Es ist zwar richtig, dass man hier meist keine Maxima und Minima braucht, aber der Lichtwechsel kann und soll erfasst werden, die Einzelbeobachtungen sind wichtig.

Behauptung: Minimabestimmungen bei Bedeckungsveränderlichen sind ungenau, bei der Asymmetrie mancher Minima spürt man die Beobachterfaulheit: das Minimum soll endlich vorbei sein, dass man ins Bett kommt

Replik: Bei einer funktionierenden Qualitätskontrolle (BAV) hat man die meisten dieser Fälle im Griff und kann nachhaken oder die Ergebnisse zurückhalten.

Behauptung: Die einzige noch sinnvolle visuelle Beobachtung ist die Aufmerksamkeit auf unerwartete Änderungen.

Replik: Das ist falsch. Die wirklich sinnvolle Beobachtung besteht darin, nach der Sammlung von Erfahrungen und der Kenntnis von Fehlerquellen wenige Sterne intensiv und auf Jahrzehnte zu beobachten. Hierfür gibt es ausgezeichnete Beispiele in der BAV.

Ganz allgemein: Jede Beschäftigung (Musik, Malerei, Literatur, Wissenschaft) braucht eine breite Basis von Interessenten, die diese Beschäftigung verstehen, für wichtig halten, nachvollziehen können, die Notwendigkeit der Finanzierung verstehen und durchsetzen können - es gibt keine Spitze ohne Basis. Und diese breite Basis ist es auch, aus der sich der Nachwuchs für die professionelle Ausübung der "Tätigkeit" rekrutiert. Ohne eine sehr breite Basis von Dilettanten (Hobby-Musiker, Hobby-Maler, Hobby-Astronomen) kann sich keine auf hohem Niveau tätige Schicht herausbilden, beide brauchen einander. Zusammengenommen bezeichnet man das als KULTUR. Ohne die visuellen Veränderlichenbeobachter (ohne die Amateure) wird es der professionellen Veränderlichenbeobachtung nicht gut gehen - dies hat auch die Sternwarte Sonneberg verstanden und sucht Unterstützung (öffentlich, praktisch, finanziell) bei Amateuren. Aus demselben Grund gibt es eine hervorragende amerikanische Tradition an populär aufbereiteter Wissenschaft, weil die amerikanischen Wissenschaftler besonders stark auf die öffentliche Unterstützung für die Zurverfügungstellung von Steuermitteln angewiesen sind - und eine Strategie ist, den Sinn der teuren Forschung einer interessierten Öffentlichkeit zu vermitteln. Es ist also auch aus diesen Gründen wichtig, die visuellen Veränderlichenbeobachter zu fördern, um damit die breite Basis für eine teure und hochgezüchtete Amateur-Beobachtung zu erhalten (woher sollen diese sonst kommen), aber auch die Profi-Beobachtung zu stärken.


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Autor: Béla Hassforther. Letzte Änderung: 13.05.2002
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